Wahrnehmung und Emotion: Stella Dallas (1925) als Body Film

Der Einfluss von Gender und Raum auf die Effekte des mütterlichen Melodramas

Open Air-Screenings auf dem Piazza Maggiore

Eine Besonderheit des Il Cinema Ritrovato Filmfestivals sind die Open Air Screenings auf dem Piazza Maggiore. Hier kann man, nicht nur ohne Reservierung sondern auch ohne Akkreditierung, Klassiker der Filmgeschichte unter den Sternen umgeben vom Palazzo D’Accursio, der Basilika San Patronio und dem Palazzo sei Banchi sehen – mit etwas Glück sogar mit Live-Orchester. Diese Kombination aus mittelalterlicher Architektur, italienischer Sommerluft und Unmengen an Publikum kreieren eine beeindruckende Atmosphäre, die kein anderes Filmfestival bieten kann. Bei einem Screening des Melodramas Stella Dallas (1925) von Henry King konnten wir selbst erleben, wie diese spezifische Rahmung der Vorführung sich auch in der Wahrnehmung der Filme niederschlägt.

Unerwartetes Potenzial im „women’s film“

In der Einführung des Films erklärte Dave Kehr, Kurator im Filmbereich des Museum of Modern Art in New York City, dass Stella Dallas über lange Zeit als stumpfer „women’s film“ abgetan wurde. Zahlreiche akademische Auseinandersetzungen insbesondere mit King Vidors Version von Stella Dallas (1937) zeigen allerdings inzwischen, dass dieser Film ein tiefgreifendes Portrait der Wechselwirkungen von gender, race und class im USA des frühen 20. Jahrhunderts bietet (siehe z.B Allison Whitney, Christian Vivani, E. Ann Kaplan, Naomi Scheman, Edie Thornton und Kristi Branham). Gleichzeitig, warnte uns Dave Kehr, würde der Film allerdings auch intensive emotionale Reaktionen hervorrufen – es sei unmöglich, ihn anzuschauen, ohne zu weinen.

Wer früh kommt, mahlt zuerst

Diese Warnung bestätigte sich eindeutig für die Teilnehmenden des Seminars, die den Film aus dem reservierten Publikumsblock saßen. Für Screenings auf dem Piazza Maggiore ist es möglich, als Festivalbesucher:in im Vorhinein einen Sitzplatz direkt vor der Leinwand zu reservieren, dieser muss allerdings mindestens 30 Minuten vor Beginn der Vorführung eingelöst werden. Wer ohne Reservierung, aber dafür früh, kommt, kann außerdem auf einen Sitzplatz etwas weiter hinten oder seitlich der Leinwand hoffen. Kurzentschlossene finden meistens Platz auf dem Boden hinter dem Sitzblock oder auf den Stufen vor der Basilika, und die, denen das Filmprogramm des Tages schon zu sehr zu Kopf gestiegen ist, können das Geschehen aus den umliegenden Bars und Cafés verfolgen.

Eine Bandbreite an Emotionen

Bei der Vorführung von Stella Dallas war ein ungewöhnlich hoher Anteil unserer Seminargruppe anwesend und auf verschiedenste Plätze auf dem Piazza Maggiore verteilt. Ebenso divers waren unsere Reaktionen auf den Film: Wir, die zu dritt im reservierten Teil des Blocks für Festivalteilnehmende saßen, konnten in den letzten 20 Minuten des Films (und auch im Anschluss) gar nicht mehr aufhören zu weinen – wir mussten danach erst einmal unsere Mütter anrufen. Als wir durch den Publikumsblock nach hinten zu dem Rest der Gruppe liefen konnten wir beobachten, dass es den anderen Zuschauenden in unserem direkten Umkreis ähnlich erging – insbesondere den von uns weiblich gelesenen Personen. Die Seminarteilnehmenden, die den Film mit halben Interesse aus einer Bar verfolgten, waren im Kontrast doch eher irritiert von dem häufig überzogenen Schauspiel und gingen schlussendlich früher.

Und wieso?

Schnell kam bei uns die Frage auf, warum der Film, je nach Sitzplatz und Geschlecht, solch eine große Bandbreite an körperlichen und emotionalen Reaktionen (nicht) hervorrufen konnte. Im Folgenden sollen einige Ansätze zur Beantwortung dieser Frage präsentiert werden. Im Allgemeinen soll hierdurch gezeigt werden, wie neue bzw. erweiterte Zugänge zur Filmgeschichte, die von Filmfestivals geschaffen werden, stets von situativen und persönlichen Parametern, unter anderem Raum und Gender, abhängen.

Worum geht’s?

Um mögliche Gründe dieser spezifischen Rezeptionen zu analysieren soll allerdings zunächst die Handlung von Henry Kings Stummfilm zusammengefasst werden (Vorsicht, Spoiler!).

Der Film beginnt nicht mit Stella, der Protagonistin, sondern mit ihrem späteren Ehemann Stephen Dallas. Schon seit der Kindheit steht fest, dass er einmal die ebenso wohlhabende Helen Morrison heiraten wird. Doch kurz vor der geplanten Hochzeit zwingt ihn ein Skandal in seiner Familie – der Suizid seines Vaters – sein bürgerliches Elternhaus zu verlassen. In der Kleinstadt Milhampton sucht er Zuflucht und Ablenkung.

Hier trifft er Stella – eine junge Frau eines deutlich niedrigeren sozialen und wirtschaftlichen Status als Stephen, die weiß, dass ihr einziger Weg aus der Arbeiterklasse heraus die Ehe zu einem Mann aus der Oberschicht ist. Stellas Avancen gegenüber Stephen sind erfolgreich und die beiden heiraten nach geringer Zeit. Kurz darauf folgt ihre Tochter Laurel. Dennoch kommt es schnell zu Schwierigkeiten in der Ehe: Stella kann oder will sich nicht an die Regeln und Etikette der Oberschicht anpassen. Außerdem sieht sie es nicht ein, jetzt, wo sie endlich Teil der Gemeinschaften und Vereine der Elite sein kann, die ihr zuvor verschlossen blieben, diesen Zugang aufgrund ihrer Rolle als Mutter zu verschmähen. Zu Beginn des Films priorisiert sie die Privilegien und Möglichkeiten, die ihr ihre Ehe ermöglicht haben, über ihr neugeborenes Kind. Im Country Club macht sich Stella in den Augen der anderen Frauen der gehobenen Klassen zum Gespött: Sie wird als zu laut und zu extravagant wahrgenommen, und was noch schlimmer zu sein scheint, sie freundet sich mit dem Stallmeister Ed Munn an.

Als Stephen Stella bittet, mit ihm für seinen neuen Job nach New York City zu ziehen, weigert sie sich, die einzige Welt, die sie kennt, hinter sich zu lassen. Schon kurz nach der Hochzeit scheitert so die Verbindung zwischen den beiden. Stephen stellt weiterhin Stellas Fähigkeiten als Mutter in Frage. Stella gibt zwar zu, bis jetzt nicht die ideale Mutter gewesen zu sein, schwört allerdings sich zu bessern und weigert sich, sich von Laurel zu trennen. Schlussendlich stimmt Stephen zu, seine geliebte Tochter bei seiner Frau zurückzulassen.

Während sich das Paar immer weiter voneinander entfernt, stürzt sich Stella „in einen anderen Aspekt ihrer Identität: die Mutterschaft“ („Something Else“ 13). Stella fühlt sich in dieser Rolle erstaunlich wohl – gibt sich allerdings nie damit zufrieden, „nur“ Mutter zu sein. In Stephens Abwesenheit vertieft sich ihre Freundschaft mit Ed Munn, in dessen Gegenwart sich Laurel von Anfang an unwohl zu fühlen scheint. Obwohl ihre Beziehung zu Ed rein freundschaftlich bleibt und sie ihre Rolle als Mutter stets privilegiert, sehen wir eine Reihe von Vorfällen, die Stella in den Augen der geradlinigeren Mitglieder der Gemeinde, wie z.B. der Rektorin von Laurels Schule, kompromittieren. Während wir als Zuschauende immer wieder von Stellas zahlreichen positiven Eigenschaften als Mutter überzeugt werden nimmt sie die elitäre Gemeinschaft immer mehr als schlechter Mutter wahr. Dieses Urteil beruht maßgeblich auf der Tatsache, dass Stella sich bis kurz vor dem Ende des Films weigert, die Bühne alleinig ihrer Tochter zu überlassen und sich vollständig in die Rolle der Mutter zurückzuziehen. Infolgedessen werden „Mutter und Tochter von der Welt der Oberschicht isoliert, zu der sie gehören wollen, in die aber nur Laurel passt“ („Something Else“ 13).

Diese kontinuierliche Ausgrenzung kulminiert in einem klassischen Beispiel eines „tear jerkers“: Voller freudiger Erwartung stehen Stella und Laurel im liebevoll für Laurels Geburtstag geschmückten Esszimmer. Diese Vorfreude sinkt rapide als keine einzige der geladenen Freundinnen auftaucht. Der Grund für diese herzzerreißend leere Feier wird in der Form einer Notiz von Laurels Rektorin enthüllt: In dem Glauben, dass sich Stella von ihrem Mann getrennt hat, verweist sie Laurel von der Schule und ruiniert damit ihren Ruf bei den anderen Kindern und ihren Müttern: „So leidet die unschuldige Tochter für die ‚Sünden‘ des Geschmacks und der Klasse der Mutter“ („Something Else“ 13). Die verschiedenen Schwierigkeiten, die das Mutter-Tochter-Duo im Laufe des Films erfährt, stärken allerdings nur ihre Bindung zueinander: Sie feiern gemeinsam Laurels Geburtstag allein.

Ein weiterer Konflikt, der sich durch den gesamten Film zieht, besteht in Stellas überzogener und stilisierter weiblicher Inszenierung: Zum Entsetzen der zurückhaltenden und elegant gekleideten Mitglieder der Oberschicht hat Stella eine Vorliebe für Rüschen, Federn, Pelze und Schmuck. In den Augen der elitären Gemeinschaft „ist Stella eine Travestie, eine übertriebene Maskerade dessen, was es heißt, eine Frau zu sein.“ („Something Else“ 13). Diese Haltung wird bei einem Vorfall in dem schicken Resort, in dem Stella und Laurel ihre Sommer verbringen, deutlich. Während Stella den ersten Teil des Urlaubs aufgrund einer Erkältung im Hotel verbringt, schließt Laurel Freundschaften und macht erste romantische Bekanntschaften. Besonders angetan ist sie von einem jungen Mann namens Richard. Trotz dessen vergisst sie jedoch nie, nach ihrer Mutter zu sehen, und scheint sich zunächst zu freuen, als es ihr wieder gut genug geht, um nach draußen zu kommen. Doch als Stella sich Laurel und ihren neuen Freund:innen auf einer Wiese nähert, wird sie von der Verlegenheit übermannt, als ihre „Freund:innen“, die nicht wissen, dass Stella Laurels Mutter ist, grobe Bemerkungen über ihren extravaganten Stil machen. Sogar Richard nennt sie eine „Panic“. Zum ersten Mal schämt sich Laurel vor ihrer Mutter und erfindet eine Ausrede, um sich mit Richard davonzustehlen, bevor Stella sie erreichen kann.

Laurel zwingt ihre Mutter, noch in derselben Nacht zu packen und das Resort zu verlassen. Für mich ist unklar, ob sie dies tut, um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden oder um zu verhindern, dass Stella verletzt wird. Kurz vor Abfahrt des Nachtzugs steigen allerdings zwei von Laurels „Freundinnen“ in ihren Schlafwagen. Unwissend, dass sich Laurel und Stella nur zwei Kojen entfernt befinden, machen die beiden Witze über Laurels „Katastrophe“ einer Mutter und behaupten, dass sie mit diesem Anhängsel niemals eine gute Ehe eingehen können wird. Stella, die glaubt Laurel würde schon schlafen, erkennt durch diese harschen Kommentare zum ersten Mal das volle Ausmaß ihrer Wirkung auf andere Personen der Oberschicht sowie ihre Tochter an. Sie glaubt den Mädchen, dass sie einen schlechten Einfluss auf das Leben ihrer Tochter haben könnte, und beschließt ihre Tochter zu ihrem Ehemann zu schicken. Dieser hat in New York inzwischen per Zufall seine Jugendliebe Helene Morrison, inzwischen verwitwet, wiedergetroffen und sich neu verliebt.

Bis zu diesem Zeitpunkt weist Stella Stephens Bitten um eine Scheidung entschieden zurück. Nun stimmt sie einer Trennung zu, unter der Bedingung, dass Stephen und Helen Laurel bei sich aufnehmen und ihr die Werte der Oberschicht vermitteln, die sie braucht, um gut zu heiraten. Stella sucht ein Gespräch unter vier Augen mit Helen: Obwohl sie nicht konkret ausspricht, dass sie fürchtet, ein schädlicher Einfluss aud die Zukunft ihrer Tochter zu sein, versteht Helen ihre Ängste auch ohne Worte. Sie verkörpert „all das, was Stella nicht ist: vornehm, diskret, zurückhaltend und mitfühlend mit jedermanns Problemen – auch mit denen von Stella“ („Something Else“ 17).

In dem Glauben, nur den Sommer bei ihrem Vater zu verbringen, wird Laurel also zu Stephen und seiner neuen Familie geschickt. Als sie erfährt, dass sie auf unbestimmte Zeit bleiben soll, besteht sie darauf, sofort zu ihrer Mutter zurückzukehren. Obwohl Stella überglücklich ist, ihre Tochter zurückzuhaben, glaubt sie immer noch, dass es für Laurel das Beste wäre, ihre gemeinsame Beziehung zu opfern. Der Gedanke daran, wie sie Laurels Leben zerstören könnte, erschüttert sie und sie erwägt sogar, Suizid zu begehen. Stattdessen entschließt sie sich, mit dem inzwischen alkoholabhängigen Ed Munn eine Verlobung vorzutäuschen. Um Laurel von ihren Absichten zu überzeugen, muss sie genau die Version ihrer selbst vorspielen, für die sie die bürgerliche Gemeinschaft schon seit langem hält.

Ihr Plan ist erfolgreich: Laurel erreicht Stephens und Helens Haus mit einer tränengetränkten Notiz ihrer Mutter in der Hand. Helen, ein „Engel“, wie Stephen sie nennt, ist die Einzige, die zwischen den Zeilen von Stellas Schreiben lesen kann: Sie versteht, was Stella getan hat und dass die angebliche Verlobung falsch ist.

Jahre vergehen, doch Helens Mitgefühl und Verständnis für Stella dauern an: Bei Laurels Hochzeit mit Richard besteht sie darauf, dass die Fensterläden trotz Sturm und Regen geöffnet bleiben. Sie scheint zu wissen, dass Stella vor dem Zaun steht und von außen ihre einzige Tochter beobachtet. Es ist bezeichnend, dass Stella hier zum ersten Mal ohne ihre sonst so typischen übertriebenen Marker von Feminität auftritt, die zuvor ein exemplarisch für ihre Meinung, dass eine Frau „etwas anderes als eine Mutter sein kann“, standen. Ausgeschlossen aus der Welt, in die ihre Tochter einheiratet, „verliert Stella sowohl ihre Tochter als auch ihr (ehemals fetischisiertes) Selbst und wird zu einem abstrakten (und abwesenden) Ideal mütterlicher Aufopferung“ („Something Else“16). Dennoch wirkt Stella glücklich: Sie muss daran glauben, das Beste für ihre Tochter getan zu habe. Die Zuschauenden können diese Auffassung allerdings nicht teilen.

Linda Williams: „Body Genres“

In ihrem einflussreichen und bekannten Artikel “Film Bodies: Gender, Genre, and Excess” erweitert die Filmkritikerin Linda Williams Carol Clovers Begriff der „Body Genres“ als Bezeichnung für Filme, die das Sensationelle priorisieren. Sie fügt den „low“ Body Genres des Horrorfilms und des Pornos das des Melodram hinzu (3). Die Gemeinsamkeiten dieser drei Genres sieht sie in der Darstellung eines Körpers, der von einer überwältigenden Empfindung oder Emotion ergriffen wird, sich also in „Ekstase“ befindet. Visuell äußert sich dieses „Körperspektakel“ im Porno als Orgasmus, im Horrorfilm als Gewalt und Terror und im Melodrama als erdrückendes Pathos. Akustisch werden diese Genres dadurch verbunden, dass sie nicht „auf kodierte Artikulationen der Sprache zurückgreift, sondern auf unartikulierte Lustschreie im Porno, Angstschreie im Horror, Schluchzer der Qual im Melodrama“ (4). Der Körper, der diese Lust, Angst und Schmerz verkörpert, ist, so Williams, stets der Frauenkörper: Sie bezieht sich auf Foucaults Konzept der „sexuellen Sättigung des weiblichen Körpers“ um zu zeigen, wie dieses „Spektakel weiblicher Viktimisierung“ (6) schon seit Jahrzehnten als „das Bewegte“ wie auch als das, dass „das Publikum bewegt“, dient (4). Es kommt also zu einer Art Nachahmung des Körpers der Zuschauenden der Emotion oder Empfindung des (weiblichen) Körpers auf der Leinwand (4). Diese „Mimicry“ wird ermöglicht, oder sogar erzwungen, durch einen „Mangel an angemessener ästhetischer Distanz, ein Gefühl der übermäßigen Verwicklung in Empfindung und Emotion“ (5). Body Genres „manipulieren“ und „forcieren“ in uns die gleichen Emotionen, die uns der weibliche Körper vorspielt.

Im Laufe ihres Artikels charakterisiert Williams die Art des Exzesses des Melodrams im Detail: Laut ihr gelten sie wegen ihres „geschlechtsspezifischen Pathos und ihrer nackten Gefühlsdarstellung“ als exzessiv (3). Die Lösung des Konflikts im Melodram beinhaltet häufig gemischte Botschaften: Freude im Schmerz, Vergnügen im Opfer („Something Else“ 2). Insbesondere im Subgenre des Muttermelodrams muss häufig die Mutter das Opfer der Trennung von ihren Kindern bringen – entweder zu deren oder zu ihrem Wohl („Something Else“ 3). Aufgrund ihrer häufig zirkulär und repetitiv erscheinenden Erzählungen, „Sprünge“ in der realistischen Narrative und durch die Darstellung „ursprünglicher, sogar infantiler Emotionen“ („Film Bodies“ 3) wurden diese Filme über lange Zeit hinweg nicht ernst genommen und als „women’s film“ abgewertet.

Weibliche Subjektpositionen

In ihrem Text “‘Something Else besides a Mother‘: ‚Stella Dallas‘ and the Maternal Melodrama” untersucht Linda Williams, wie Filme wie Stella Dallas, in denen übliche Unterscheidungen von Subjekt und Objekt des „Looks“ nicht mehr gültig sind, die Repräsentation von Frauen im Film möglich machen, indem ein spezifisch weibliches Publikum angesprochen wird. Hierfür bedient sie sich der Theorien verschiedener feministischer Psychoanalytiker:innen und ihren Ausführungen zur weiblichen Subjektbildung.

Weibliche Lesarten

Im Gegensatz zu feministischen Filmtheoretiker:innen, wie Laura Mulvey, die der Meinung sind, die Repräsentation der Frau im Film nicht als Signifikant für das männliche Andere, sondern nur für sich selbst, sei nur in einer „avantgardistischen Filmpraxis, die mit dem Voyeurismus und Fetisch des narrativen Kinos bricht“, möglich, argumentiert Williams, dass die Art und Weise wie Frauen innerhalb des Films miteinander kommunizieren und so ein spezifisch weibliche Publikum ansprechen dabei helfen kann, neue Darstellungsstrategien zu entwickeln („Something Else“ 7). Sie bezieht sich auf die Filmwissenschaftlerin Christine Gledhill um zu zeigen, dass die Repräsentation von Diskursen, die für und von Frauen produziert werden, sowie die Widersprüche, mit denen sie im Patriarchat konfrontiert werden, es Frauen ermöglicht in einer eigenen „Sprache“ zu kommunizieren, die aus ihren spezifischen sozialen Rollen erwächst. Williams erweitert dieses Argument um den Punkt, dass manche Diskurse, die von einem überwiegend weiblichen Publikum konsumiert werden, von Anfang an eine eigene weibliche Lesart erfordern. Diese Lesart, so Williams, erwerben (cis)-Frauen durch ihre weibliche Sozialisierung im Patriarchat, die eng mit dem Konzept von Mutterschaft verknüpft ist. („Something Else“ 8).

Distanzierungsstrategien und flexible Subjektpositionen

Diese Lesart definiert sich durch eine in den Text eingeschriebene Distanzierungsstrategie, die es ermöglicht, „eine Problematik zu erzeugen, innerhalb derer das Bild manipulierbar, herstellbar und von Frauen lesbar ist“ („Something Else“ 19). Mit Bezug auf die feministische Filmtheoretikerin Mary Ann Doane argumentiert Williams, dass diese Distanzierung vom Bild möglich wird, indem es nicht als Ikon, das keine Entzifferung erfordert, sondern als Zeichen, das gelesen werden muss, gesehen wird. Ein Beispiel für diese Distanzierung ist die übertrieben Maskerade von Weiblichkeit, wie Stella selbst sie in Stella Dallas verkörpert. Die weibliche Zuschauerin kann diese Maskerade als Zeichen „lesen“ und daraus Stellas Wunsch, neben ihrer Rolle als Mutter weiterhin als eigenständige Frau wahrgenommen zu werden, ableiten. Durch eine Distanzierung dieser Art wird weiterhin vermieden, dass sich die weibliche Zuschauerin entweder mit der Frau im Film über-identifiziert, oder die Subjektposition des männlichen Voyeurs einnimmt und so die Frau gleichermaßen ihrem kontrollierenden Blick unterwirft. Eine weibliche Sichtweise auf einen Text jongliert also stetig die Subjektposition des von der Frau distanzierten und sich differenzierenden männlichen Zuschauers und der sich in der Über-Identifikation verlierenden Frau („Something Else“ 19).

Ödipale Asymmetrien

Basierend auf Sigmund Freuds Konzept der „ödipalen Asymmetrien“, also der geschlechterspezifischen Anwendung des Ödipus-Komplex auf die kindliche Entwicklung, untersucht Williams weiterhin die prä- und postödipalen Beziehungen von Frau zu Frau. Kinder, so Freud, identifizieren sich zunächst unabhängig von ihrem Geschlecht mit der Mutter, ihrem ersten Liebesobjekt und der primären Pflegeperson. Während sich Jungen allerdings im Laufe ihrer Entwicklung von ihrer Mutter abgrenzen und sich stattdessen mit ihrem Vater identifizieren müssen, um in die symbolische Ordnung einzutreten, behalten Mädchen eine stärkere präödipale Verbindung zu ihren Müttern bei: Für heterosexuelle Frauen sei es nicht notwendig, ihre Identifikation mit ihren Müttern aufzugeben, um ihre sexuelle Identität zu entfalten. Stattdessen werden sie ihrer Mutter immer ähnlicher, wobei sie ihre Liebe zur Mutter nicht aufgeben, sondern auf den Vater und später auf einen Partner ausweiten („Something Else 8-9).

„Mothering“ und „Double Vision“

Ausgehend von dieser „doppelten“ bzw. „mehrfachen“ weiblichen Identifikation argumentiert die feministische Soziologin Nancy Chodorow, dass das „Selbstverständnis der Frau auf einer Kontinuität von Beziehungen“ beruht („Something Else“ 18-19). Diese symbiotische Verbindung bereitet sie auf die empathische, identifizierende Rolle der Mutter vor. Die Fähigkeit „zu bemuttern“ ist also keine der Frau biologisch inhärente Kapazität, sondern das Ergebnis einer engeren Bindung zur eigenen Mutter. Die weibliche Subjektposition orientiert sich an der Rolle der Mutter und ermöglicht es der Zuschauerin so, Empathie und Verständnis für eine Vielzahl von Personen – wie auch fiktiven Charakteren – aufzubringen, sie also zu „bemuttern“ („Something Else“ 9).

Chodorow bezeichnet diese Fähigkeit der Zuschauerin, sich mit einer Vielzahl unterschiedlicher Subjektpositionen zu identifizieren, als „double vision“ („Something Else“ 18 ff.) und kontrastiert sie stark mit dem männlichen Zuschauer, der sich stets mit dem Vater, bzw. mit dem aktiven männlichen Protagonisten, identifiziert. Die verschiedenen Blickwinkel, mit denen sich der „divided female spectator“ gleichzeitig identifizieren kann, können sogar widersprüchlich sein, wie z.B. Laurels Unfähigkeit, den Plan ihrer Mutter zu durchschauen im Kontrast zu Helens Verständnis für Stella („Something Else“ 22).

„The Ideal Mother“

Williams überträgt weiterhin das, was die feministische Kulturkritikerin Tania Modleski für die Erzählform von Soap Operas gezeigt hat, auf das Melodram. Beide Formen fördern die Identifikation der Zuschauerin mit mehreren Blickwinkeln: „Während die Identifikation mit einem einzigen kontrollierenden Protagonisten dazu führt, dass sich der Zuschauer ermächtigt fühlt, führt die mehrfache Identifikation […] dazu, dass die Zuschauerin nicht mehr Macht hat, sondern mehr Empathie“ („Something Else“ 18). Sie verwendet den Begriff der „idealen Mutter“, um die Zuschauerin von Soaps und Melodramen zu charakterisieren: „Sie besitzt mehr Weisheit als alle ihre Kinder (die fiktiven Charaktere) und kann gleichermaßen Empathie für alle widersprüchlichen Ansprüche ihrer Familie aufbringen (sie identifiziert sich mit ihnen allen), während sie keine eigenen Forderungen hat (sie identifiziert sich mit keiner Figur ausschließlich)“ („Something Else“ 18).

Kollektives Leid und die Unmöglichkeit eines Happy Endings

Als „ideale Mutter“ identifizieren wir uns beim Betrachten von Stella Dallas mit einer Vielzahl von widersprüchlichen Standpunkten und spüren so das größtmögliche Leid – denn kein Charakter kann den eigenen Konflikt lösen, ohne jemand anderen zu verletzen: Stella opfert sich für Laurels vermeintlich bessere Zukunft und verliert so ihre Tochter und ihre Identität, doch auch Laurel leidet unter dem Verlust ihrer Mutter. Helen leidet durch den Verlust ihres ersten Partners, durch Stellas anfängliche Ablehnung einer Scheidung und, durch ihre große Empathiefähigkeit, auch mit allen anderen Charaktere. Lediglich Stephen scheint am Ende des Filmes frei von Leid zu sein – doch er kann das Leid der anderen Figuren selbst nicht wahrnehmen. Für ihn allein kann das Ende des Films zufriedenstellend sein: Nur er profitiert von der patriarchalischen Forderung nach Unterdrückung der aktiven Involvierung und körperlichen Exzess der Mutter und der Einordnung der Tochter in die herrschende visuelle Ökonomie („Something Else“ 18), denn nur durch Stellas Opfer kann er Helen heiraten und Laurel wieder in sein Leben integrieren. Für die weibliche Zuschauerin ist es allerdings unmöglich, sich mit seiner empathielosen und distanzierten Perspektive zu identifizieren. Stattdessen spürt sie die Diskrepanz „zwischen dem, was die patriarchalische Auflösung des Films von uns verlangt“ – die Mutter „an ihrem Platz“ als passive Zuschauerin – und dem Verlust der Mutter an die Tochter und der Tochter an die Mutter („Something Else“ 18). Im Gegensatz zu Stella, die daran glauben muss, dass sich ihr Opfer gelohnt hat, kennt sie Kosten ihres Entschlusses: Sie weiß, wie sehr Laurel (und auch Helen) gelitten hat, um diese Rolle der fetischisierten (und damit erfolgreichen) Frau zu erhalten und kann sich deshalb mit dem Ende nicht zufrieden geben.

Meine Beobachtung, dass weiblich gelesene Personen mehr zum Erfolg von Stella Dallas als „Body Genre“ beitragen als männlich gelesen Zuschauer, also die körperlichen Reaktionen im Film stärker imitieren, lässt sich also von einigen verschiedenen Punkten stützen. Einerseits spricht eine bestimmte, in den Text eingeschriebene, weibliche Lesart die Zuschauerin besonders an. Ihre Sozialisierung als Frau ermöglicht es ihr, bestimmte Bilder als Zeichen zu interpretieren und zu entziffern. Dieser Prozess des „Lesens“ kreiert außerdem eine kritische Distanz zum Text, der es ihr unmöglich macht, sich entweder völlig mit der über-identifizierenden Frau oder dem männlichen Voyeur zu identifizieren. Stattdessen kann die weibliche Zuschauerin immer mehrere Subjektpositionen gleichzeitig einnehmen.

Diese Fähigkeit wird verstärkt durch die sozial erlernte Rolle der „Mutter“, die der Frau durch ihre kontinuierliche symbiotische Verbindung mit der eigenen Mutter vermittelt wird. Die Fähigkeit „zu bemuttern“, die sie von der Mutter übernimmt, ermöglicht es ihr, für mehrere und auch widersprüchliche Sichtweisen und Meinungen Empathie und Zuneigung aufzubringen. Während der männliche Zuschauer eher dazu tendiert, sich mit dem weniger sensiblen Stephen zu identifizieren, der als einziger von der „Konfliktlösung“ profitiert, spürt die Zuschauerin das volle Ausmaß des Leids aller Charaktere gleichzeitig.

Dispositiv Filmfestival – Open Air Kino

In seinem Artikel “Dispositiv Fernsehen” erläutert und erweitert der Medienwissenschaftler Knut Hickethier das Konzept des Dispositivs von Jean-Louis Baudry durch einen Vergleich des Dispositivs des Fernsehens mit dem des Kinos. Das Dispositiv bezeichnet hierbei einen bestimmten Rahmen, in dem Medienkonsum geschieht. Im Falle des Kinos umfasst so sowohl die Technik und Institution der Vorführung sowie das Publikum und ihr Nutzungsverhalten, die sich gegenseitig prägen und die Wahrnehmung der Nutzer:innen beeinflussen (63).

Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die Hickethier für die Wahrnehmungsordnung des Fernsehen im Kontrast zu der des Kinos formuliert, lassen sich in Teilen auch auf die unterschiedlichen Rezeptionssituationen auf dem Piazza Maggiore übertragen, um so die variierenden Reaktionen zu konzeptualisieren.

Die Lichtverhältnisse im reservierten Publikumsblock lassen sich mit der Abdunklung im Kinosaal vergleichen, während in den umliegenden Bars und Cafés die Deckenbeleuchtung wie auch die immer wieder aufleuchtenden Handybildschirme es erschweren, sich auf die Leinwand zu konzentrieren. Die Musik des Live-Orchesters, die in den vordersten Rängen ein zusätzliches einzigartiges und imposantes Vorführungselement bietet, wird zu den hintersten Sitzplätzen nur noch per Lautsprecher übertragen und verliert so seinen besonderen Charakter. Die Bildfläche und Auflösung bleiben zwar unabhängig vom Sitzplatz gleich, die Distanz zum Bildschirm variiert dafür allerdings umso mehr. Ähnlich wie die Sessel im Kino sind die Plastikstühle im reservierten Block in Richtung Leinwand fixiert, obwohl es ihnen deutlich an vergleichbarem Komfort mangelt (Hickethier 65). Auf dem Boden oder auf den Treppen der Basilika wie auch in den Cafés und Bars gilt diese axiale Ausrichtung nicht. Auf den hintersten Sitzplätzen wird zudem zunehmend der Realitätseindruck des Films zerstört: Von hier aus ist der Beamer, von dem aus auf die Leinwand projiziert wird, sichtbar.

Noch auffälliger als die technischen Umstände sind allerdings die sozialen Regeln, die die Wahrnehmung beeinflussen: Umgeben von anderen andächtigen Zuschauenden ist es im Publikumsblock einfach, sich komplett auf den Film einzulassen. Unterbrechungen und Störfaktoren, wie z.B. Konversationen, Aufstehen oder das Handy einzuschalten sind streng verpönt und werden mit Blicken bis zu ungehaltenen Kommentaren bestraft. In den umliegenden Bars dagegen wimmelt es von Ablenkungen: Parallele Interaktionen, sowohl in Person als auch digital, sind nicht nur möglich, sondern die Norm. Es ist deutlich einfacher, das Screening zwischen- oder vorzeitlich zu verlassen. Die zeitliche und räumliche Fixierung der Zuschauenden vor dem Bildschirm ist hier aufgehoben.

Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die immobile Anordnung der Zuschauenden im reservierten Block in Richtung der überlebensgroßen Projektion, dem unmittelbaren Ton und der Abwesenheit von Nebengeräuschen und Alltagstätigkeiten es dem Publikum ermöglicht, dem Werk die ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. In dieser Rezeptionssituation (oder: bei dieser Anordnung des Dispositivs) ist es einfacher, in einen traumähnlichen, semi-regressiven Rezeptionszustand zu geraten und somit einen verstärkten Realitätseindruck zu erhalten. Infolgedessen lassen sich die Zuschauenden dieses Dispositivs eher auf die Emotionen der Charaktere im Film ein und empfinden diese nach, während die Zuschauenden in einem Raum voller potentieller Ablenkungen und räumlicher Distanz sich nur schwer auf das Geschehen einlassen können.

Quellen

Hickethier, Knut. „Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells.“ montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, vol. 4, No. 1, 1995: pp. 63-83.

Williams, Linda. “Film Bodies: Gender, Genre, and Excess.” Film Quarterly, vol. 44, No. 4, 1991: pp. 2-13.

Williams, Linda. “”Something Else besides a Mother”:” Stella Dallas” and the Maternal Melodrama.” Cinema Journal, vol. 24, No. 1, 1984: pp. 2-27.

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